„Vom Staat erlaubt – von der Kirche verboten“

14. Mai 2020 in Aktuelles


Schweiz: Abdankungsfeiern in der Kirche in der Zeit der #Corona-Pandemie – Chronologie eines Systemversagens. Gastbeitrag von Niklaus Herzog


Freiburg i.Ü. (kath.net) Päpstlicher als der Papst? Um Himmels willen! Lieber staatlicher als der Staat: Trotz ausdrücklicher Erlaubnis der Schweizer Regierung verbieten Bistümer in der Schweiz weiterhin Bestattungsfeiern in Kirchen und Kapellen: Chronologie eines Systemversagens.

 

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat in einem in der Neuen Zürcher Zeitung vom 15. April 2020 veröffentlichten Essay den singulären Tatbestand angeprangert, dass erstmals in der Geschichte seines Landes die Freundschafts- und Liebesbeziehungen zu den nächsten Angehörigen brutal und unwiderruflich gekappt wurden, weil sie kollektiv zu einer möglichen Ansteckungsquelle deklariert wurden. Mit dem totalen Kontaktverbot zu Menschen an der Schwelle des Todes sei, so Agamben, die Grenze der Menschlichkeit zur Barbarei überschritten worden. An die Adresse der Kirche richtet er den Vorwurf, ihre ureigenste Sendung verraten zu haben: “Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehrten, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.“ Gilt dieser Befund, der bei aller Problematik seiner extremen Ausformulierung gleichwohl an den Kern des Christentums rührt, auch für die kirchliche Landschaft in der Schweiz?

 

Der Bundesrat (= Schweizer Regierung) hat mit Wirkung vom 19. März 2020 den nationalen Notstand ausgerufen. Die damit verbundenen Eingriffe in Gesellschaft und Wirtschaft waren zwar massiv, aber weniger einschneidend als in den meisten anderen Ländern Europas. Diese relative, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung möglichst schonende Zurückhaltung stiess auf breite Zustimmung. Anders verhielt es sich, als der gleiche Bundesrat am 16. April 2020 eine schrittweise Lockerung seines Notstandsregimes ankündigte: Ab dem 27. April 2020 können – so der Bundesrat wörtlich - Massagepraxen, Kosmetiksalons und Tatoo-Studios (sic!) ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, demgegenüber müssen sich u.a. Museen, Bibliotheken und Buchhandlungen noch bis zum 11. Mai gedulden. Schlicht absurd, ist doch der berufsbedingte Körperkontakt und damit das Infektionsrisiko bei einem Tatoo ungleich grösser als beim Kauf einer Kondolenzkarte in einer Papeterie. Entsprechend negativ fiel das Echo weiter Teile der Bevölkerung auf diese gesundheitspolitisch nicht nachvollziehbare Prioritätensetzung aus.

 

Mit der Hand an der Hosennaht

 

Aus religiöser bzw. kirchlicher Sicht inakzeptabel ist die Tatsache, dass der Bundesrat nicht einmal ein Datum nannte, ab wann er seinen eisernen Griff auf öffentliche religiöse Veranstaltungen wenigstens partiell zu lockern gedenkt. Die Kirchen teilten diese beklagenswerte Schicksal mit der Gastronomie und dem Tourismus. Doch während letztere zurecht lautstark ihre vitalen Interessen an einer Wiedereröffnung ihrer Betriebe geltend machten, verharrte die kirchliche Obrigkeit in einer unterwürfigen, kaum für möglich gehaltenen Pose gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Das Resultat war absehbar: Währenddem die Gastro- und Tourismus-Branche den Lohn für ihre professionelle Lobbyarbeit einheimsen konnte (ab dem 11. Mai können sie unter Auflagen wieder aktiv werden), verbannte der Bundesrat die existentielle Frage der Wiederzulassung öffentlicher Gottesdienste getreu dem Prinzip des geringsten Widerstandes irgendwo ins Sommerloch.

 

Doch der Reihe nach:

Am 13. März 2020, also noch vor der Ausrufung des Notstandes durch den Bundesrat, drängte es Generalvikar Markus Thürig, die Diözesanen des Bistums Basel über „Massnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus“ zu orientieren. Durch den ausufernden Verbotskatalog („Es kommen keine Kirchenchöre und Orchester zum Einsatz“; „Am Karfreitag wird keine Kommunion gespendet“; „Die nach Ostern vorgesehenen Erstkommunionsfeiern finden dieses Jahr nicht statt“) allfällig hervorgerufene Befürchtungen wurden durch einen trostreichen Vorspann gleichsam präventiv ruhig gestellt: „Als Kirche sind wir Teil der Gesellschaft...Wir verstehen die jetzt entstandene Situation auch als Chance, um darüber nachzudenken und zu entdecken, welche kreativen Möglichkeiten wir haben, auf andere Art miteinander verbunden zu sein, welche neuen Sichtweisen wir entwickeln können und was entsteht, wenn vieles unklar ist und neu werden will.“ Nach diesem nebulös-wolkigen Ausflug ins theologische Nirwana sprach dann nach erfolgter Ausrufung des Notstandes durch den Bundesrat Generalvikar Thürig plötzlich wieder Klartext: „Wer Grippesymptome aufweist , bleibt zu Hause“. An welches Zuhause bei den im gleichen Schreiben vom 17. März 2020 erwähnten, als besonders schutzbedürftig bezeichneten Obdachlosen er gedacht hat, bleibt sein Geheimnis. Bemerkenswert in vorliegendem Kontext ist vor allem aber sein Interdictum: „Begräbnisfeiern können unter strengen Auflagen stattfinden. Sie werden so einfach wie möglich und mit so wenigen Personen wie möglich gefeiert (im engsten Familienkreis und nur am Grab.“

 

Immerhin, kurz nach der Bekanntgabe der ersten „Lockerung des Lockdowns“ durch den Bundesrat, gibt das Bistum Basel Entwarnung: „Eine Abdankungsfeier in der Kirche bzw. in einer Abdankungshalle ist gemäss bundesrätlicher Verordnung ab dem 11. Mai 2020 möglich“ (vgl. „FAQ und Präzisierungen zur bisher erfolgten Kommunikation des Bistums Basel“ vom 30. April 2020).

 

Der Clou dabei: Der Bundesrat hatte Abdankungsfeiern in Kirchen gar nie verboten – im Gegenteil! Bereits in seinen Erläuterungen vom 3. April 2020 zu seiner COVID-Verordnung-2 hatte der Bundesrat nämlich verbindlich festgehalten:

 

„Ebenfalls nicht untersagt ist die Durchführung von Beerdigungen, an welchen nur wenige Familienangehörige teilnehmen. Der Begriff „Beerdigungen“ ist im Sinne dieser Verordnung als Oberbegriff zu verstehen, so dass darunter alle Formen der Bestattungsarten fallen können. Mithin sind auch Abdankungsfeiern in der Kirche darunter zu subsumieren (Hervorhebung durch den Autor). Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe l stellt einerseits eine Ausnahme vom Veranstaltungsverbot dar und relativiert mit der Formulierung „im engen Familienkreis“ gleichzeitig auch das Verbot von Menschenansammlungen von mehr als 5 Personen nach Artikel 7c. Es gibt demzufolge keine Vorgabe betreffend die maximale Anzahl anwesender Personen, solange sie zum engsten Familienkreis gehören...Letztlich ist es der Familie überlassen zu entscheiden, ob bspw. auch die evtl. einer Risikogruppe angehörenden Grosseltern eingeladen werden sollen. Was die Gesamtteilnehmerzahl betrifft, scheinen 10 – 20 Personen angemessen zu sein; je nach Anzahl Geschwister oder Kinder können es aber ganz ausnahmsweise auch mehr sein...Dass es bei den engsten Angehörigen während der Zeremonie ausnahmsweise engeren Kontakt geben kann, ist nachvollziehbar und muss in Kauf genommen werden.“ Der einzige Unterschied zur ursprünglichen Fassung der Notstandsverordnung des Bundesrates besteht darin, dass mit Wirkung vom 27. April 2020 „die Limitierung auf den engen Familienkreis bei Beerdigungen wieder aufgehoben wird“ (Medienmitteilung des Bundesrats vom 16. April 2020).

 

Den Preis der servilsten Pose hat sich aber zweifelsohne das Bistum St. Gallen gesichert. Sich der späten Einsicht der Nachbardiözese Basel verweigernd, ordnet Bischof Markus Büchel in seinem Dekret Nr. 5 vom 17. April 2020 an: „Ab dem 27. April 2020 dürfen gemäss der COVID-19-Verordnung 2 Begräbnisse im Familienkreis (nicht mehr im engsten Familienkreis) durchgeführt werden. Die Abstand- und Hygienemassnahmen müssen eingehalten werden. Die Beerdigungsfeier findet nur im Freien statt (sic!). Eine Feier in der Kirche oder Kapelle kann nur in Rücksprache mit den Verantwortlichen der politischen Gemeinde erfolgen.“

 

Mit der Hand an der Hosennaht in Achtungsstellung gebannt auf die nächsten Ukas der Landesregierung starren kann schnell einmal zu Wahrnehmungsstörungen führen. Im Bemühen, vom Staat erlassene Verbote unverzüglich auf die kirchliche Ebene herunterzubrechen, hatte man schlicht keine Zeit (oder wollte man keine Zeit haben), sich die Erläuterungen eben dieses Staates zu seinen eigenen Verboten anzusehen. Eine solche Pflichtlektüre wäre auch auf jene Passage gestossen, welche bereits in der Version vom 3. April 2020 (!) enthalten ist. Darin heisst es:

„Hat der Bundesrat eine Regelung getroffen, hat dies zur Folge, dass die Kantone keine Bestimmungen erlassen dürfen, die der Bundesverordnung widersprechen. Sofern für einen Bereich eine Bundesregelung besteht, ist diese abschliessend....Sie (sc. die Kantone) haben in den durch die vorliegende COVID-19-Verordnung 2 regulierten Bereichen keinen Handlungsspielraum mehr...Ebenso dürfen die kantonalen Vollzugsbehörden mit ihren Vollzugshandlungen die vorliegende Bundesratsverordnung nicht unterlaufen.“ Dies bedeutet im Klartext: Der Bundesrat hat in Art. 6 Abs. 3 lit. l Bestattungen ausdrücklich vom Veranstaltungsverbot ausgenommen. Dieser Ausnahmetatbestand umfasst expressis verbis auch Abdankungsfeiern in Kirchen und Kapellen. Es gibt demzufolge im Lichte der vorstehend zitierten Erläuterungen keinen Spielraum, Abdankungsfeiern in Kirchen vom Gutdünken kantonaler bzw. kommunaler Behörden abhängig zu machen (was Kontrollgänge durch dieselben selbstredend nicht ausschliesst). Der entsprechende Passus im Dekret 5 des Bistums St. Gallen vom 17. April 2020 ist deshalb rechtswidrig, weil gegen Bundesrecht verstossend.

 

Beim Wettlauf um den 'devotesten Dackelblick' wollte selbstredend auch Abt Urban Federer nicht hintanstehen. Der Vorsteher des Klosters Einsiedeln und damit des bedeutendsten Wallfahrtsortes der Schweiz untersagte im Gegensatz zu andern Klöstern kurzerhand der ganzen Mönchsgemeinschaft das Beichthören generell. Den Reigen der virtuellen Gottesdienste eröffnete er in grellem Kontrast zum Beichtverbot mit dem Satz: „Ich bin von der Live-Stream-Technik fasziniert.“ Von der Kenntnis der vergleichsweise simplen Plexiglastechnik, welche Beichten unter Einhaltung der einschlägigen Hygienevorschriften problemlos ermöglichen, scheint Abt Urban hingegen bis dato verschont geblieben zu sein.

 

Schutzkonzept: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ (Lenin)

 

Mehr nolens als volens hat sich die Schweizer Bischfskonferenz dazu aufgerafft, ein „Rahmen-Schutzkonzept zur Durchführung öffentlicher Gottesdienste“ zu erlassen. Ein Schutzkonzept? Von wegen! Ein veritabler Tsumani aus sage und schreibe 27 Verbots- und Kontrollnormen vor, während und nach dem Gottesdienst schwappt da über jenen unbelehrbaren Teil des Kirchenvolkes, der aller Virus-Paranoia zum Trotz seiner dem Selbstverständnis der Kirche entsprechenden Überzeugung folgend an der öffentlichen, gemeinsamen Feier von Gottesdiensten festhalten möchte.

 

Auszüge aus dem Verbots-Panoptikum:

         „Die Gläubigen werden mit Wegweisern zu den klar gekennzeichneten, offenstehenden Eingangstüren gelenkt (Betätigen der Türgriffe vermeiden). Dabei sind die staatlich angeordneten Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Von der Pfarrei beauftragte Personen kontrollieren dies.“

         Die Gläubigen reinigen sich beim Eingang zum Gotteshaus die Hände mit einem viruzidalen Desinfektionsmittel. Von der Pfarrei beauftragte Personen stellen Spender mit einer genügenden Menge an Desinfektionsmitteln bereit und sorgen für die lückenlose Handdesinfektion.“

         „Die Gläubigen nehmen an den gekennzeichneten orten Platz. Ihre Plätze sind gegenüber den Plätzen der vorderen oder hinteren freien Reihe versetzt. Von der Pfarrei beauftragte Personen überwachen die Einhaltung dieser Ordnung.“

         „Die Gläubigen verlassen das Gotteshaus nach einer von der Pfarrei festgelegten Ordnung und unter Einhaltung der Abstandsregeln, und sie unterlassen vor dem Gotteshaus Gruppenansammlungen. Eine von der Pfarrei beauftragte Person kontrolliert dies.“ (kursiv vom Autor).

 

Es handelt sich um ein eigentliches Gottesdienst-Verhinderungskonzept, um eine Art Exorzismus mit umgekehrten Vorzeichen – frei nach dem Motto: Wenn Ihr immer noch nicht begriffen habt, dass wir keine öffentlichen Gottesdienste wollen, dann soll Euch Euer widerspenstiges Tun und Verlangen nach allen Regeln der Kunst ausgetrieben werden. Die Misstrauens- und Kontrollpsychose findet wohl ihren signifikantesten Ausdruck in der undifferenzierten Bestimmung: „Gläubige, die krank sind oder sich krank fühlen, werden aufgefordert, dem Gottesdienst fern zu bleiben.“ Ja, sind den alle Kranken oder sich krank fühlenden Menschen potentielle Virenschleudern? Dass bei den allermeisten Krankheiten kein Infektionsrisiko besteht, scheint den Autoren dieses Overkill-Konzepts nicht bewusst zu sein. Warum soll etwa ein Rheumakranker nicht an einem öffentlichen Gottesdienst teilnehmen können? Einen sachlichen, medizinisch indizierten Grund gibt es nicht. Diese Verbotsnorm ist umso deplatzierter , als sie das Christentum in seinem Wesen triff, gehört es doch zu den Kernaufgaben der Kirche, zuallererst den leidenden, kranken und sterbenden Menschen körperlich und spirituell erfahrbar beizustehen.

 

In den Schutzkonzepten einzelner Diözesen wie auch der Bischofskonferenz tauchen immer wieder Formulierungen auf wie „Es sollen weiterhin keine Anreize geschaffen werden, dass Menschen, insbesondere unsere betagten Mitchristinnen und Mitchristen, sich versammeln und aus dem Haus gehen“; „Der Schutz der Risikogruppe hat erste Priorität“; „Die katholische Kirche weiss sich selbstverständlich (sic!) an die geltenden staatliche Vorschriften gebunden“; „Die Vorgaben des Bundesrates und die Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) betreffend Hygiene und Abstand sind strikte einzuhalten“; „Bei den Massnahmen des Bischofs bleibt die Gesundheit und der Schutz der Risikogruppen prioritär.“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: manche unserer Oberhirten nehmen buchstäblich auf den Knien die Verordnung des Bundesrates zur Corona-Virus-Pandemie entgegen wie weiland Moses die Tafeln zu den zehn Geboten aus der Hand Gottes. Grotesker noch: Im blinden Übereifer, das staatliche Plansoll zu erfüllen, wird gar die Verletzung fundamentaler Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Kauf genommen. So etwa im Dekret 5 des Bistums St. Gallen vom 17. April 2020, wo es unter dem Titel „Einzelseelsorge“ heisst: „Es wird eine Liste geführt, welche Person wann getroffen wurde.“ Darf's auch ein Fahndungsfoto sein? Dass damit das in der Bundesverfassung verankerte Recht auf Datenschutz, sprich das informationelle Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Gläubigen, aufs Gröblichste verletzt wird, hat sich der Entourage von Bischof Markus Büchel ganz offensichtlich nicht erschlossen. Und, so ist weiter zu fragen, wie verträgt sich diese Aussage mit der gleichentags veröffentlichten Mitteilung des Bistums Basel: „Wir machen darauf aufmerksam, dass auch während der Corona-Krise datenschutzrechtliche Bestimmungen nicht ausser Kraft gesetzt sind?“ Der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsinger hat klargestellt: Die ursprünglich vorgesehene obligatorische Erfassung der Kontaktdaten von Restaurantbesuchern ist illegal, weil dazu die notwendige gesetzliche Grundlage fehlt. Der Bundesart ruderte umgehend zurück. Wird sich das Bistum St. Gallen zur gleichen Einsicht durchringen? Es sollte ihm nicht schwer fallen, ist doch die Einzelseelsorge ein besonders sensibler Bereich, ungleich sensibler als als der Besuch in einer Kneipe.

 

Der vorauseilende Gehorsam gegenüber staatlichen Anordnungen ist umso absurder, als auch der Bundesrat und sein Bundesamt für Gesundheit im Grunde genommen nur den je aktuellen Stand des Irrtums reflektieren. Praktisch zu jeder existentiellen Problemstellung im Zusammenhang mit der Corona-Virus-Pandemie gibt es sowohl unter den Experten als auch innnerhalb zuständigen Behörden diametral entgegengesetzte Standpunkte. Ja, man muss von einer eigentlichen Kakophonie, von einer ununterbrochenen Abfolge von sich widersprechenden Hypothesen, Empfehlungen und Anordnungen sprechen. Dienen Schutzmasken im Alltag der Virus-Prävention? „Ein Witz“, befindet der Berner Immunologie-Professor Peter Jüni, zur Zeit in Toronto tätig. „Wer eine Maske trägt, wähnt sich sicher, er vergisst den allein (!) entscheidenden Mindestabstand. Bei unsachgemässem Gebrauch können Masken gefährlich werden“, sagt der Präsident des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery. Als der Bund noch über keinen genügenden Vorrat an Schutzmasken verfügte, meinte „Mister Corona“ Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit: „Schutzmasken sind, wenn sie in der allgemeinen Bevölkerung getragen werden, sehr wenig wirksam.“ Einige Wochen später, als der Bund inzwischen genügend Masken eingekauft hatte, hiess es von der gleichen Stelle: „Hygienemasken werden empfohlen.“ Können sich Kinder mit dem Corona-Virus anstecken und ihn weiterverbreiten? „Kinder erkranken nicht und infizieren sich auch nicht. Sie sind wirklich keine Überträger des Virus“, beruhigte Daniel Koch am 17. April 2020 die Bevölkerung. Die Reaktion erfolgte prompt: „Kinder sind genauso ansteckend wie Erwachsene“, widerspricht der deutsche Virologie-Papst Christian Drosten. Item: Sind Antikörper-Tests sinnvoll, gar nötig? „Sie kosten viel und nützen wenig“, bringt Professor Pietro Vernazza, Chefarzt für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, seine Einschätzung auf den Punkt.

 

Last but not least: Trotz ausdrücklicher Warnung des Robert Koch-Instituts (Ansteckungsgefahr!) wagten es Pathologen in Hamburg und Basel unter Inkaufnahme persönlicher Gesundheitsrisiken, an Corona-Virus verstorbenen Patienten Obduktionen vorzunehmen: Eine im Grunde genommen zutiefst christliche Haltung, weil sie sich nicht dem Diktat eines auf die physiologische Dimension versimpelten Gesundheitsbegriffs unterwarfen. Und siehe da: Sie gelangten zum Befund, dass die meisten Verstorbenen keine Lungenentzündung hatten, mithin die händeringend gesuchten Beatmungsgeräte im Verbund mit Intubationen gegebenenfalls mehr Schaden als Nutzen anrichten. Diese womöglich Tausenden von Corona-Virus-Patienten zugute kommende Erkenntnis verdankt sich mutigen Pathologen, welche echte Nächstenliebe praktizierten, die sich wiederum nicht vom Einsatz der eigenen Existenz abstrahieren lässt.

 

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“: Dieses berühmt-berüchtigte Dictum des erklärten Religionshassers Lenin scheint auch bei der Abfassung des Schutzkonzepts der Schweizer Bischofskonferenz wegleitend gewesen zu sein. Die Anordnung „Nach dem Gottesdienst sind alle Kontaktstellen zu säubern und zu desinfizieren, ebenso allenfalls vorhandene sanitarische Anlagen“ ist nur eine von vielen, welche den Eindruck vermitteln, da würden sich ausnahmslos potentielle Virenschleudern auf den Weg in die Kirche machen. Es ist absehbar, dass unter diesen Umständen nur eine sehr beschränkte Zahl von Gläubigen an solchen Gottesdiensten teilnehmen möchte. Wäre dies das Ziel des Schutzkonzepts, um im Nachhinein sagen zu können: „Ja, warum macht Ihr ein solches Aufhebens, öffentliche Gottesdienste interessieren ohnehin nur wenige Leute,“ müsste dieses Schutzkonzept definitiv unter dem Oberbegriff „Lenin statt Christus“ subsumiert werden. Dabei wären gerade in einer Zeit der Pandemie-bedingten, zunehmenden Vereinsamung und Isolation konkrete Gemeinschaftserlebnisse das Gebot der Stunde.

 

„Kirche und Christentum sind mehr als öffentliche Gottesdienste“ belehrt die Schweizer Bischofskonferenz das Kirchenvolk. Als ob dies jemand in Zweifel gezogen hätte! Aber die Eucharistiefeier als höchste Form des Gottesdienstes ist nun einmal „Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens und der Sendung der Kirche.“ Das Schutzkonzept des Bistums Basel verweist für Gebet und Betrachtung auf die Vorschläge der Benediktiner von Einsiedeln. Bleibt zu hoffen, dass man dort auch Kenntnis hat von der Regel ihres Gründervaters, des heiligen Benedikt, wo es in Kapitel 43 heisst: „Nichts soll also dem Gottesdienst vorgezogen werden.“

Niklaus Herzog ist Theologe und Jurist; er war Geschäftsführer der Ethikkommission des Kantons Zürich und amtet heute als Richter am Interdiözesanen Gericht der Schweizer Bischofskonferenz.


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