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Josef von Nazareth - Der Mann in der zweiten Reihe - Leseprobe 1

2. Juli 2022 in Buchtipp, keine Lesermeinung
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Leseprobe 1 des neuen Buches von Karl-Heinz Fleckenstein


Linz (kath.net) 

EIN HALBWÜCHSIGER GEHT SEINEN EIGENEN WEG

Josef, als Jesus 12 Jahre alt war, zogt ihr wie alljährlich zu den jüdischen Hochfesten von Nazareth nach Jerusalem in den Tempel. Wie habt ihr euch vorbereitet für die Wallfahrt nach Jerusalem?

Nach dem ersten Frühjahrsvollmond pilgerten wir alljährlich dorthin zum Passafest, um die rituelle Erneuerung des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten zu feiern. „Segne uns, Josef, bevor wir nach Jerusalem aufbrechen!“ sagte Maria und legte ihre Rechte auf die linke Hand Jesu. „Dein Segen wird ihn stärken und auch mir Kraft geben, wenn ich mich langsam von ihm losreißen muss,“ fügte sie seufzend hinzu. „Maria, Jesus wird immer dein Kind bleiben“, machte ich ihr Mut.

„Du bist würdig, ihn ins Leben hinauszubegleiten!“ Daraufhin nahm sie als Zeichen der Achtung und Liebe meine Hand und küsste sie. „Ich segne dich, du Begnadete, und Jesus mit dir“, begann ich, während ich die Arme über beide ausbreitete: „Der Herr beschütze und behüte euch. Er erbarme sich euer und schenke euch seinen Frieden! Der Herr gebe euch seinen Segen!“ Die Stunde des Aufbruchs war gekommen! Maria nahm ein großes, dunkelrotes Tuch und legt es in Falten um die Taille ihres Sohnes. Sie liebkoste ihn dabei. Dann gingen wir aus dem Haus und machten uns auf den Weg.

 

Was geschah im Tempel, nachdem ihr Jerusalem erreicht hattet?

Viele Menschen kamen zum Fest und gingen durch die Tore der Umfassungsmauer des Tempels. Sie durchschritten Vorhöfe, Innenhöfe und Säulengänge. Auch unsere Reisegesellschaft erreichte den heiligen Ort, andächtig Psalmen singend. Zuerst alle Männer. Dann die Frauen. Ich trennte mich zusammen mit Jesus von der Gruppe. Im Vorhof der Männer beteten wir den Allerhöchsten an. Die Frauen waren auf einer tieferen Terrasse stehengeblieben.

 

Wann habt ihr auf dem Zuhause Weg gemerkt, dass sich Jesus nicht mehr in der Reisegruppe befand?

Ich nahm zunächst an, er habe sich der Gruppe seiner Mutter angeschlossen. Maria hingegen dachte, er sei mit mir unterwegs. Als wir aber feststellten, dass unser Sohn nicht in der Nähe war, bewahrten wir zunächst einmal die Ruhe und zogen weiter. Er war immerhin schon zwölf Jahre alt. Ein großer Junge, und vernünftig auch. Selbst wenn es besser gewesen wäre, er hätte uns Bescheid gesagt. Aber er würde schon bei seinen Cousinen oder Freunden aus Nazareth sein.


Nachdem wir einen Tag nach Norden gewandert waren, stellten wir am Abend fest, dass Jesus nicht da war. Das ganze Lager durchforsteten wir auf der Suche nach ihm. Alle Verwandten und Nachbarn, die wir nach Jesus fragten, hatten ihn nicht gesehen und nur den Kopf geschüttelt, teils als Antwort, teils als Urteil über uns als solche Rabeneltern. Mit jedem Nein verwandelte sich unsere Besorgnis in nackte Angst. Wo war Jesus? Was war geschehen? Ging es ihm gut? Schließlich, nachdem uns klar wurde, dass dies kein Versteckspiel war, machten wir uns beide noch in derselben Nacht auf den Weg zurück nach Jerusalem. Ein unglaubliches Horrorszenarium ging uns durch den Kopf. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen. Oder hatten irgendwelche kriminellen Banden, die sich unter den Zug der Festpilger mischten, den Jungen entführt und verschleppt, um ihn in die Sklaverei zu verkaufen? Ich konnte die Angst in Marias Augen lesen. Ihr zurückgehaltener Schmerz und das offenkundige Zittern, das sie befiehl, ihr erbleichtes Antlitz und die weit geöffneten Augen erregten in mir mehr Mitleid als Tränen und Gejammer. Vergessen waren jetzt Müdigkeit und Hunger. Jeder Schritt brachte uns Jerusalem näher.

Drei Tage lang durchkämmten wir die Hauptstadt. Wir waren zum Passah-Fest hergekommen. Für die Befreiung aus der Knechtschaft hatten wir zusammen mit vielen anderen dem Allmächtigen gedankt. Trotz der Besatzung durch die Römer. Trotz der Angst vor der bedrückenden Steuerlast hatten wir den Auszug aus Ägypten gefeiert und auf Gott gehofft. Dass er die Fesseln lösen und sein Volk freimachen sollte. Sollte der Befreier jetzt zulassen, dass unser Sohn abhanden kam? Und das noch im Verlaufe seines Passah-Fests? Das durfte doch nicht wahr sein! Wir hielten Karawanen und Pilger auf. Wir suchten alle Plätze ab, wo wir mit dem Knaben waren: die Unterkunft, den Imbiss, Bekannte… Keine Spur! In einer großen Stadt wie Jerusalem gab es so viele und unterschiedliche Menschen aus allen Herren Ländern. Ein Junge konnte da leicht untergehen, sogar unter die Räder kommen. Von Stunde zu Stunde wurde es unwahrscheinlicher, dass wir ihn noch lebend sehen würden. Aber wie sollten wir ohne ihn nach Hause kommen?! Wir fragten weiter hektisch jeden Menschen, dem wir begegneten. Keiner wusste etwas. Wo, wo um Himmelswillen konnte Jesus nur sein? Ein Kind im Tempel zu suchen, schien uns sinnlos. Was sollte schon ein Halbwüchsiger im Tempel tun?

Wir riefen nach der Tempelpolizei und waren völlig vereinnahmt von der Frage: Wie finden wir unser Kind wieder? Niemand wusste etwas von diesem Knaben. „Schön? Blond? Kräftig? Oh, solche gibt es viele! Zu wenig Information, um sagen zu können: Ich habe ihn gesehen. Wir durcheilten Höfe und Hallen. Nichts! Wir rannten nach allen Richtungen, von wo wir eine Knabenstimme zu vernehmen meinten. Dann, nach drei Tagen der Angst wollten wir nur noch beten. Am Besten im Tempel. Außerdem könnten wir uns bei den Gelehrten dort einen Rat holen. Sie kannten die Schrift und ihre Auslegung gut. Von Menschen und ihren Schicksalen verstanden sie sicher auch etwas.

Auch in scheinbar ausweglosen Lagen wussten sie uns bestimmt ein Wort des Trosts und der Weisung zu sagen. Da hörten wir hinter einer Traube von Menschen seine Stimme: „Diese Steine werden erzittern.“ Wir versuchten, uns durch die Menge zu drängen. Es gelang uns nach großer Mühe. Zu unserer Überraschung erblickten wir dort unseren Sohn. Unverletzt und ohne jede Aufregung. Da stand unser halbwüchsige Kind mit ausgebreiteten Armen auf einem Hocker inmitten der Gelehrten und Studierenden und verblüffte sie zu allem Überfluss mit seinen Fragen und Antworten. Das sprengte alles, womit wir gerechnet hätten und löste sogleich Entsetzen bei uns aus: Jesus im Tempel. Aber nicht wie ein Schüler zu Füßen der großen Lehrer Israels, um von ihnen zu lernen, sondern mitten unter ihnen als gleichberechtigter Gesprächsteilnehmer. Er hörte den klugen Männern zu, stellte selber Fragen und legte dabei eine solche Weisheit an den Tag, dass Erstaunen und Erschrecken um sich griffen. Der zwölfjährige Junge vom Dorf aus der galiläischen Provinz mit den Schriftgelehrten Israels auf Augenhöhe diskutierend.

Eine Situation, die mitten in der Suche nach dem vermissten Kind das Außergewöhnliche seines Wesens aufblitzen ließ und der Situation eine ganz neue, unerwartete Wendung gab. Diesmal überwand Maria ihre gewohnte Zurückhaltung. Sie eilte zu Jesus, umarmte ihn, hob ihn vom Stuhl hoch, stellt ihn auf den Boden. Dabei schien sie zunächst das Absonderliche der Situation gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Mit keiner Silbe nahm sie Bezug auf den im Tempel disputierenden Jesus. Stattdessen richtete sie den Vorwurf der besorgten Mutter an ihn: „Warum hast du uns das getan? Seit drei Tagen suchen wir dich. Ich sterbe vor Kummer, Sohn! Dein Vater ist erschöpft! Warum, Jesus?“

Wie reagierte Jesus darauf?

Ohne Wiedersehensszene. Ohne Freudentränen und innige Umarmung. Seine Entgegnung klang nicht minder vorwurfsvoll: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ Es war die Suche nach seinem himmlischen Vater, der ihn lehrte, wie er leben sollte, der ein vollkommenes Vorbild war, das ihn zur Identifizierung einlud. Damit machte uns Jesus eines deutlich: „Ich gehöre auf die Seite Gottes. Dorthin, wo der Bereich meines Vaters ist. Und welcher Ort könnte dies besser symbolisieren als der Tempel in Jerusalem, zentrale Stätte der Gottesbegegnung für den jüdischen Glauben? Ich bin berufen zu einer Sendung und ich erfülle sie. Über dem irdischen Vater und der leiblichen Mutter steht mein göttlicher Vater. Seine Interessen sind mir wichtiger als alle irdischen.“

Mit dieser Aussage blitzte die andere, die göttliche Seite seines Wesens unerwartet auf. Maria hat diese Worte nie mehr vergessen. Die Sonne war in ihr Herz zurückgekehrt, während sie die Hand ihres Sohnes hielt. Sie würde nie mehr fragen: „Warum hast du uns dies angetan, mein Sohn?“

kath.net Buchtipp
Josef von Nazareth - Der Mann in der zweiten Reihe
160 Seiten, Paperback 
Bernardus Verlag 2022
ISBN: 9783810703569
Preis: Euro 15,30


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